
*Meinung*
Ich kann es nicht mehr hören. Plastiktüten sind schlecht, verschmutzen die Weltmeere, haben eine schlechte CO2-Bilanz. Stoffbeutel sind das Mittel der Wahl. Und wenn das nicht geht, dann Papiertüten. Oder doch nicht? Papiertüten sind auch schlecht, dreizehn(!) Mal muss ich sie wiederverwerten, sonst ist die Ökobilanz schlechter als bei der Plastiktüte. Und Baumwolltüten sind auch ganz schlecht wegen des Einsatzes von Bioziden bei der Baumwollproduktion und sie werden ja auch noch häufig per Schiff transportiert: ganz schlecht für das Weltklima.
Ach so, ich esse natürlich nur noch Bio. Der Umwelt zuliebe. Habe gestern im Basic eine Packung Bio-Kräuterseitlinge gekauft. Waren in Plastikfolie eingeschweißt, wegen der Hygiene. Ja, klar!
Irgendetwas ist schlecht, dann wird eine Alternative angeboten und es stellt sich heraus, dass die noch schlechter ist. Irgendwie auf jeden Fall.
Mir begegnet diese Argumentation (auch von berufswegen) ständig: Rindfleisch (muss man essen wegen der regionalen Landwirtschaft und weil einseitige Ernährung schlecht ist; darf man auf keinen Fall essen wegen der 15.000 Liter Wasser, die pro kg Rundfleisch bewegt werden), Elektroautos (halte ich eigentlich für die Zukunft, bis man mir bedeutete, dass das Lithium in den Batterien eine fürchterliche Umweltbilanz besitzt und zur Versklavung in Zentralafrika beiträgt) und natürlich Fliegen (das ist überhaupt das Schlimmste. Natürlich sollen sich Völker und Kulturen begegnen, um alte Feindschaften abzubauen und zu neuem Vertrauen zu finden. Aber wie geht das im großen Stil: über Tourismus. Und der erzeugt pro Langstreckenflug soviel CO2 wie ein Durchschnitts-Deutscher im ganzen Jahr).
Fassen wir das Dilemma zusammen:
Die wenigsten „Lösungen“ sind in allen Belangen besser als alle anderen. Wer ein Problem sucht, findet auch eins.
Weltklima, Plastikmüll in den Weltmeeren, Artenvielfalt, Nahrungsmittelversorgnung, wirtschaftlicher Fortschritt, Armutsbekämpfung: viele Themen, die gleichzeitig optimiert werden müssen – aber das geht so nicht. Wenn wir allen Menschen ein Recht auf eine halbwegs intakte Umwelt zubilligen, müssen wir pragmatische Wege der Verbesserung suchen. Wir können nicht gleichzeitig “Migrationsursachen bekämpfen” skandieren und den CO2-Ausstoß in Zentralafrika begrenzen. Wirtschaftlicher Aufschwung in Zentralafrika erfordert stabile Lebensmittelproduktion und eine irgendwie geartete Industrialisierung, die in den frühen Phasen mit erhöhtem CO2-Ausstoß einhergeht. Geht halt einfach nicht.
Wir werden nicht alle Probleme gleichzeitig lösen können. Das überfordert den Menschen, die Politik und führt zu Atemnot durch Hyperventilation.
Menschen, Unternehmen und Politik benötigen Zeit, um sich auf neue Spielregeln einstellen zu können. Den Anstieg der Weltbevölkerung auf 10 Mrd. Menschen bis 2050 (also in ca. 30 Jahren) werden die heutigen Midlifer noch erleben. Nach den gängigen Prognosen müsste die Welt bis 2050 ihren CO2-Ausstoß um 50% gegenüber 1990 senken1https://www.google.com/search?client=firefox-b-1-m&ei=ipxtXMqPMcabkwXU5JKwBg&q=co2+emissionen+weltweit+seit+1990&oq=co2+emissionen+weltweit+seit+1990&gs_l=mobile-gws-wiz-serp.3..0i30.9632.12024..12471…0.0..0.174.1195.0j9……0….1………0i71j0i13j0i7i30j0i8i13i30.8bOdIEUhg5g. Leider ist der bisher gegenüber 1990 um ca. 50% gestiegen2https://www.google.com/search?client=firefox-b-1-m&ei=ipxtXMqPMcabkwXU5JKwBg&q=co2+emissionen+weltweit+seit+1990&oq=co2+emissionen+weltweit+seit+1990&gs_l=mobile-gws-wiz-serp.3..0i30.9632.12024..12471…0.0..0.174.1195.0j9……0….1………0i71j0i13j0i7i30j0i8i13i30.8bOdIEUhg5g. Und bei fairer Lastenverteilung müssten die heutigen Industrienationen ihren Ausstoß sogar um 80% senken. Wir befinden uns heute also in einer schwierigen Situation: keine Ideen, keine Zeit, großer potentieller Schaden. Und wer das alles nicht glaubt, fragt die norwegische Küstenwache: “Wir haben jetzt Garnelenfischer nördlich des 83. Breitengrades. Und im Sommer Kreuzfahrtriesen mit 7000 Passagieren in Spitzbergen“, so der Chief of Operations in der Süddeutschen Zeitung vom 21.02.2019.
Es gibt erfolgreiche Best-Practice Beispiele, wie die Menschheit große Probleme pragmatisch gelöst hat. Und dafür, wie es nicht geht.
Wie kann so eine pragmatische Lösung aussehen? Der wichtigste Punkt ist: Effektivität ist wichtiger als Recht haben. Der treibende Faktor menschlichen Handelns ist ein quasi-ökonomisches Kalkül. Nicht unbedingt das, was wir in der Uni lernen, aber der Saure Regen ist besiegt, FCKWs sind verschwunden und mit ihnen das Ozonloch – es gibt eine Vielzahl von guten Beispielen, wie eine Mischung aus gesetzlicher Regulierung und ökonomischen Anreizen zur Verbesserung führt:
- Die Zahl der Menschen, die in absoluter Armut leben, hat sich in den letzten 20 Jahren halbiert
- Die Zahl der Menschen, die an Naturkatastrophen sterben, hat sich in den letzten 100 Jahren halbiert
- Die meisten Menschen auf der Welt leben heute – trotz steigender Weltbevölkerung – in “Middle Income Countries”
- 80% aller Kinder sind heute mindestens gegen eine Krankheit geimpft
- Die Zahl der jährlichen Flugzeugtoten ist seit den 30er Jahren um 90% gesunken usw. usw.
Wie man es nicht machen kann? Durch dogmatische Beschränkung. Viele Menschen auf der Welt sind besorgt wegen einer drohenden Massenmigration durch Klimawandel und wirtschaftliche Probleme in bestimmten Regionen. Die Diskussion in den öffentlichen Medien oszilliert zwischen vermeintlichem Common sense („wir können ja nicht alle nehmen“) und ethischen Erwägungen („jeder hat ein Recht auf Glück“). Man muss nicht mit besonderen hellseherischen Fähigkeiten gesegnet sein, um die Lösung für das mögliche Problem in einer Mischung aus Klimapolitik, weiterem wirtschaftlichen Fortschritt und barmherziger Flüchtlingshilfe zu sehen. Die einzigen, die das nicht sehen, sind Fundamentaldogmatiker; aber die hatten m.E. noch die Lösung für irgendein Problem zur Hand.
Erfolgreiche pragmatische Lösungen gibt es genug. Es gibt keinen Grund, warum man das nicht auch für das drängendste Problem der Menschheit, den menschengemachten Klimawandel, finden kann.
Wir können die Rettung der Menschheit nicht zur Aufgabe des Individuums machen.
Wie meine ich das?
- Die Bürde, die Welt zu retten, ist für den Einzelnen zu groß. Katalysatoren wurden nicht von einigen wenigen verantwortungsbewussten Autofahrern erfolgreich eingeführt, sondern “on a global scale” (hierzu auch ein lustiger Artikel aus dem Vice-Magazin: „Warum mich das Thema Nachhaltigkeit ankotzt“).
- Die Festlegung der Prioritäten ist eine Staatsaufgabe. Bis genügend viele Bürger mit Papiertüte und Elektromobilität die Welt gerettet haben, ist es wahrscheinlich zu spät. An der demokratischen Willensbildung haben die Parteien mitzuwirken. Art. 21 des Grundgesetzes ist m.E. auch eine Verpflichtung.
- Ganz nebenbei: freiwillige Selbstverpflichtungen der Industrie sind eine gute Sache; aber alleine ist das nicht genug. Die Zuckerampel zeigt uns, wie zumindest in Deutschland auch einfache richtige Schritte nicht gegangen werden, wenn der Gesetzgeber nicht eingreift.
Zusammenfassung: Let’s get it done!
20% der Wahlberechtigten in Bayern haben im Februar für ein Volksbegehren zum Artenschutz unterschrieben. Es ist einfach nicht so, dass den Bürgern der Zustand der Welt egal ist.
Eine “Lösung” der diversen Klima- und Umweltproblematiken ist unmöglich. Zumindest in dem Sinn, dass wir jahrelang über den richtigen Ansatz streiten in der Hoffnung, dass durch die Diskussion der Königsweg am Horizont erscheint. Wir können unser Abwarten nicht mehr mit der Suche nach dem optimalen Weg rechtfertigen.
- Wir müssen uns auf die zentralen Probleme konzentrieren. Es bringt nichts, wenn wir Klimarettung und Ernährungsphilosophie gemeinsam optimieren wollen. Der klare Grundsatz muss lauten: “Klima first!”
- Ab sofort nur noch Schritte in die richtige Richtung: wir können bei Amazon kein Buch kaufen, welche Maßnahmen die Welt wirklich retten werden – mit der Handlungsunsicherheit müssen wir leben. Aber wir können eines tun: keine Schritte mehr in die falsche Richtung. Jede neue Maßnahme muss die Zielerreichung vorantreiben. Das Umsetzen von Stickstoff-Messstationen am Mittleren Ring ist sicher eine interessante Aufgabe; aber mir wäre es lieber, Elektroladestationen zu bauen.
- Es muss schnell gehen – Und darf lange dauern: nehmen wir das Beispiel CO2-Steuer. Das wäre wahrscheinlich die am besten wirksame Einzelmaßnahme gegen den Klimawandel – von allen. Weil der CO2-Ausstoß unmittelbar in das ökonomische Kalkül von Unternehmen und Individuen einbezogen wäre. Tolle Sache. Aber zu Recht macht man sich Sorgen, welche Auswirkungen das auf die Wirtschaft hätte. Deshalb muss man solche Maßnahmen langfristig planen, so dass sich alle vorbereiten können. Man kann eine CO2-Steuer beschließen und in den ersten fünf Jahren mit einem eher symbolischen Betrag unterlegen, der planbar systematisch anwächst. Mit zunehmender CO2-Steuer müssen andere Steuern entsprechend reduziert werden. Im Ergebnis erhält man eine Lenkungsabgabe ohne Verwerfungen. Es darf ruhig dauern, wenn man das Richtige anfängt.
Wovon ich träume:
Ich möchte diese Welt an die nächste Generation in einem Zustand übergeben, in dem eine Chance besteht, die unglaubliche Geschichte von Wohlstand und Fortschritt der letzten 100 Jahre weiterzuschreiben. Ich stelle mir vor, dass die globale Temperaturerwärmung in einem Maße beschränkt geblieben ist, dass einige in 20 Jahren vom “Klima-Märchen” erzählen, das früher als drängendstes Problem der Menschheit angesehen worden sei, aber ja offensichtlich gar nicht eingetreten ist. Das kann ich gut ertragen. Denn es ist viel wichtiger, effektiv zu sein, als Recht zu haben.
Dieser Artikel spiegelt die Meinung des Autors wider, der auch für den Inhalt verantwortlich ist. Verantwortlicher Redakteur i.S.d.P.: Dr. Marcel Pietsch, München