Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben (Teil 2)

Eine Wirtschaft, die sich nicht aufspielt, sondern unterordnet

Von Katja Bartholmess und Marcel Pietsch-Khalili (Zu Teil 1 geht es hier)

Das zentrale Paradigma der Moderne ist der Fortschrittsgedanke. Vom individuellen Erkenntnisfortschritt über den Sozialstaat bis zum technologischen Fortschritt ist ein Gedanke zentral: es geht unerschöpflich und unaufhaltsam voran, niemals können wir stehenbleiben, niemals kann ein gutes Leben bedeuten, dass es so bleibt, wie es war. Die Moderne hat die Vorstellung einer Steady-State-Gesellschaft über Bord geworfen, jedes Jahr muss besser werden als das vergangene. Mit zunehmender Zentrierung der Wirtschaft, wurde Fortschritt in Wachstum umgedeutet und seitdem ist das Credo schneller, besser, größer — um buchstäblich jeden Preis.

Vor allem dieses Wachstumsparadigma, das einem privilegierten Teil der vor allem westlichen Gesellschaft in den letzten 100 Jahren zu unglaublichem Wohlstand verholfen hat, geht heute vor allem auf Kosten der sozialen Gerechtigkeit und unserer nicht unendlichen Umwelt. Es ist der Grund für viele unserer Probleme.

Und da man Probleme niemals mit derselben Denkweise lösen kann, durch die sie entstanden sind, wird die Lösung unserer Probleme ein neues Paradigma hervorbringen.

Rück rüber, Wirtschaft. Mensch und Umwelt kommen in den Mittelpunkt!

Die Idee vom ewigen Wirtschaftswachstum war schon immer eine Utopie, schon weil sie gegen die Gesetze der Physik verstößt.

Zum einen ist unser Planet physisch begrenzt und Wohlstand, wie wir ihn in den letzten Jahren als materiellen Wohlstand verstanden haben, kann nicht von Umweltschäden entkoppelt werden — also auch nicht unbegrenzt wachsen.

Zum anderen wird unser Wachstums- und Wohlstandsdrang auf den Rücken derjenigen ausgetragen, die ihn zwar mit ihrer Arbeitskraft schaffen, ihn jedoch nie selbst erleben. Diese Lücke — die sogenannte Productivity Pay Gap — zwischen der stetig steigenden Produktivität und den flach bleibenden Löhnen klafft seit 1970 dramatisch.

Diese gern verdrängten Einsichten sind nicht neu. Wollen wir jedoch die Lebensgrundlagen für die nachfolgenden Generationen dauerhaft erhalten und soll lokal und global Gerechtigkeit herrschen, dann gibt es eine zwingende Schlussfolgerung: es muss eine Obergrenze der individuellen Inanspruchnahme unserer Umweltressourcen existieren, mithin eine Obergrenze des individuellen materiellen Wohlstandes.

Umweltbewusstsein und die Frage nach nachhaltigen Wirtschaftsmethoden sind nicht neu. Indigene Völker lebten seit Jahrhunderten im respektvollen Einklang mit der Natur, bis man sie von ihren Landstrichen vertrieb. Und in den 1970ern wurden auch in der westlichen Welt die Rufe nach mehr Nachhaltigkeit laut. Doch dann waren wir wohl ein paar Jahrzehnte abgelenkt. Zum Glück gibt es seit einigen Jahren wieder spannende Wegweiser*innen. Wenn wir es zum Beispiel mit der britischen Ökonomin Kate Raworth halten, dann geht der Einklang der Wirtschaft mit der Umwelt und dem Menschen am besten mit dem Konzept einer Doughnut-Wirtschaft. Diese agiert zwischen einer planetaren Obergrenze der Ressourcen, die sich innerhalb eines Jahres wieder regenerieren können und einer sozialen Untergrenze, die die Absicherung menschlicher Bedürfnisse garantiert.

Wir möchten eine Welt sehen, in der sich die Wirtschaft den planetaren Gegebenheiten und den menschlichen Bedürfnissen unterordnet. Es ergibt Sinn: Die Wirtschaft ist die einzige komplett verhandelbare Größe. Der Planet und der Mensch haben dagegen reale, unverhandelbare physische und biologische Grenzen der Belastbarkeit.

Wie sieht eine Wirtschaft aus, die sich unterordnet? Jahrzehntelang stand sie im Mittelpunkt und wurde bei allen politischen Fragen immer mit der größten Fürsorge behandelt. “Wirtschaft gut, alles gut” war der allgemeine Tenor. Doch es war nicht alles gut. Man hat den Wohlstand von heute mit den Ressourcen von morgen aufgebaut. Und die Quittung dafür ist das aktuelle reale Risiko, dass wir die Lebensgrundlage auf diesem Planeten verlieren.

Es geht so nicht weiter. Buchstäblich.

Wir müssen von der Politik erwarten, dass sie ihre Aufmerksamkeit ab sofort auf die Bedürfnisse des Menschen und die Kapazitäten des Planeten lenkt. Und zwar mit der gleichen geradezu zärtlichen Sorgfalt, die sie sonst für wirtschaftliche Belange reserviert hat.

Und wir müssen von den Unternehmer*innen erwarten, dass sie sich eindeutig zu ihrer Verantwortung bekennen. Dass sie sich von Profit und Shareholder-Value-Maximierung als einzigen Stellgrößen distanzieren und ihre Positionierung in einem sozialen und biologischen Umfeld der gegenseitigen Abhängigkeiten akzeptieren.

Es gibt eine kleine aber wachsende Nische an Unternehmer*innen, die soziales und ökologisches Verantwortungsbewusstsein als Verpflichtung ansehen: Es gibt die globale B Corp Bewegung mit ihrem B Impact Assessment, der auch die Autor*innen dieses Artikels angehören. Es gibt die Gemeinwohl-Ökonomie in den DACH-Regionen, UnternehmensGrün in Deutschland. Dazu gibt es Methoden wie z.B. die Triple Bottom Line, die Future Fit Business Benchmark und R 3.0. Nun geht es darum, diese Nische auszubauen und den Status Quo von “Business as usual” grundlegend auszuhebeln.

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Wenn wir Verantwortungsbewusstsein und Nachhaltigkeit als die zentralen Stellgrößen der neuen Wirtschaft sehen, die dem Menschen und Planeten untergeordnet ist, dann stellt sich die Frage der Unterstützungswürdigkeit ganzer Branchen.

Es gehört schon eine Portion Ironie dazu, wenn große Unternehmen weltweit in der Corona-Krise nach staatlichen Hilfen rufen. Und ganz besonders, wenn sie die Bedingungen auch noch mitbestimmen wollen. Airlines, Banken und Automobilhersteller haben in den letzten 50 Jahren keine Gelegenheit ausgelassen, Deregulierung ihrer Märkte und Abbau von Handelsschranken zu verlangen, da dies im Sinne freier, liberaler Marktwirtschaft das beste Ergebnis für alle erzielen würde.

Fragt man die Intellektuellen Urväter des Wirtschaftsliberalismus, und hier meinen wir Schwergewichte wie Friedrich August Hayek und Joseph Schumpeter (und ausdrücklich nicht deren neoliberalen Abklatscher wie z.B. Greenspan und Summers), dann ist die Sache klar: Freie Marktwirtschaft bedeutet, dass Unternehmen nach Marktprinzipien Güter herstellen und verteilen und die Verantwortung für Ihre Entscheidungen übernehmen, auch in Krisen. Unternehmen, die etwa nicht genügend Reserven für schlechte Zeiten zur Seite gelegt haben oder die im Laufe der Zeit ihre Relevanz verlieren, verschwinden und werden durch besser aufgestellte ersetzt. Diese Dynamik, so der Wirtschaftsliberalismus, sorgt für Stabilität und maximalen Wohlstand für alle durch Veränderung und Anpassung. Öffentliche Güter, deren Bereitstellung für die Grundbedürfnisse der Menschen unabdingbar seien, müssen dabei vom Staat bereitgestellt werden. Was im Wirtschaftsliberalismus nicht vorgesehen ist, sind Bankenrettungen, Bailouts, Autokaufprämien oder privatisierte Wasserversorger.

Nun kann man über diese Philosophie geteilter Meinung sein, aber die Botschaft des Wirtschaftsliberalismus ist eindeutig: es sei zwar jedermann gestattet, Gewinne in beliebiger Größenordnung zu machen, aber unter der Bedingung, dass er für die Konsequenzen seines Handelns einsteht; das, was Nassim Nicholas Taleb „Skin in the game“ genannt hat. Und zu diesen “Konsequenzen” gehören natürlich ganz unbedingt ökologische und soziale Auswirkungen. Man kann und muss sich Wohlstand „verdienen“.

Sprung in den April 2020: in Deutschland stehen in der Automobilindustrie, Luftfahrt, Gastronomie und vielen anderen Branchen eine große Zahl von Arbeitsplätzen auf dem Spiel und der Ruf nach staatlichen Hilfen ist groß.

Wir meinen, dass staatliche Hilfen durchaus sinnvoll sein können. Drei Punkte erscheinen dabei besonders wichtig:

Erstens, bei staatlicher Hilfe geht es nicht primär um die Unternehmen oder gar deren Gesellschafter, sondern in erster Linie um die Bürger*innen. Ihren Arbeitsplatz und somit ihren Lebensunterhalt vorübergehend in der Krise zu sichern und so die Sozialsysteme vor Überbelastung zu schützen, das ist die Kernaufgabe der Hilfen. Deswegen sind hier auch Initiativen willkommen, die die Gelder direkt in die Taschen der Menschen leiten — wie zum Beispiel der Corona-Zuschuss in Höhe von EUR 5.000, den Berliner Soloselbstständige, Freiberufler*innen und Kleinstunternehmen in Anspruch nehmen konnten.

Zweitens dürfen staatliche Hilfen auf gar keinen Fall den Strukturwandel behindern. Etwa der bereits stattfindende Wandel hin zur Elektromobilität darf nicht durch eine Kaufprämie für Dieselautos untergraben werden. Unternehmen, die staatliche Hilfen in Anspruch nehmen wollen, müssen darlegen, warum sie schutzwürdig sind und welche Zukunftskonzepte sie mit Hilfe der staatlichen Unterstützung umsetzen wollen. — Wir reden hier von Finanzierungsspritzen im Milliardenbereich, da ist es sicher nicht zuviel verlangt, dass sich ein Konzern zukunftsweisende Gedanken macht und die Unterstützung mit Verpflichtungen als Kollateral unterschreibt. Einen Gastronomiebetrieb kann der Staat ohne allzu große Auflagen unterstützen, deren Geschäftsmodell wird langfristig ähnlich sein, wie in der Vergangenheit. Aber eine Lufthansa oder ein Automobilkonzern dürfen für eine Rückkehr in die Vergangenheit keinen staatlichen Anschub erhalten.

Drittens, wer staatliche Hilfe in Anspruch nimmt, muss sich als gesellschaftlicher Teamplayer bewiesen haben und einen Eigenbeitrag leisten. Wir halten es für geboten, dass Unternehmen, die ihren vollumfänglichen Steuerverpflichtungen systematisch aus dem Weg gehen — sei es durch Buchhaltungsakrobatik oder die Firmenauslagerung in sogenannte Steuerparadiese — automatisch disqualifiziert werden. Zusätzlich sollten Aktionäre in der Zeit, in der sie vom Staat am Leben gehalten werden, keine Gewinnausschüttungen vornehmen und Vorstände sich selbstverständlich mit einer Lohnobergrenze zufrieden geben. Wir empfehlen hier die Orientierung an der Vergütung der sich als systemrelevant etablierten Berufe, zum Beispiel am frei verfügbaren Gehalt einer Krankenschwester. Die Angestellten müssen beim Kurzarbeitergeld auch Einbußen in Kauf nehmen. Und was für die einen recht ist, sollte für die anderen billig sein.

Aber es wird in Zukunft nicht genügen, dass Unternehmen ihre Existenzberechtigungsbeweise für Krisenzeiten aussparen. Fortschritt unter Ressourcenknappheit und Umweltverschmutzung bedeutet vor allem qualitativen Fortschritt. Nicht die Überproduktion billiger Waren, sondern die „verantwortungsvolle“ Herstellung von „sinnvollen“ Gütern und Dienstleistungen ist das Thema der Zukunft.

Diese Entwicklung erzeugt Rechtfertigungsdruck. Warum ist mein Produkt oder meine Dienstleistung sinnvoll? Sind meine unternehmerischen Tätigkeiten regenerativ oder zerstörend? Wieso kann ich es besser und umweltfreundlicher herstellen oder anbieten als andere? Was sind die aktuellen sozialen und ökologischen Auswirkungen meines Unternehmens und zu welchen Stretchgoals verpflichte ich mich? Und letztlich die Gretchenfrage: Ist meine unternehmerische Existenz für die Gesellschaft relevant oder kann man auf mich ohne Weiteres verzichten? — Wir würden uns freuen, diese Fragen in Zukunft auf den strategischen Agendas aller Wirtschaftszweige zu sehen. Es ist höchste Zeit.

Und da die Menschen auch in Zukunft keine umfassende technische Kompetenz zur Beurteilung von Produkten, Herstellungsverfahren oder sozialer Ausrichtung besitzen werden, wird Glaubwürdigkeit zu einer immer wichtiger werdenden Währung. Damit die verschiedenen Nachhaltigkeitszertifizierer nicht den traurigen Weg der Ratingagenturen seit der Finanzkrise 2008 gehen, müssen auch sie kompromisslose Transparenz und Bewertungskriterien und damit ihre eigene Existenzberechtigung nachweisen und den Menschen verlässliche Entscheidungsgrundlagen bieten.

Soziale und ökologisch Nachhaltigkeit ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Wenn es das Ziel sein soll, den Planeten langfristig bewohnbar zu halten und die sozialen Ungerechtigkeiten auszumerzen, dann müssen die Konstellationen zugunsten der Menschen und der Umwelt verschoben werden. Und letztlich müssen Regierungen, Bevölkerungen und die Wirtschaft am selben Strang und in dieselbe Richtung ziehen.

Das ist eine Zukunft, die real werden kann. Vor allem wenn wir jetzt unsere Chance nutzen und diese Entwicklungen mit ruhigem Kopf vorbereiten und nicht bloß mit hektischer Hand Schecks ausschreiben.

Notes:

Katja Bartholmess ist Strategin und Sozial-Anthropologin, setzt sich für Klima- und soziale Gerechtigkeit ein und ist am Aufbau der B Corp Bewegung in Deutschland beteiligt. Weitere Artikel aus ihrer Feder stehen hier.

Dr. Marcel Pietsch ist studierter Volkswirt und Philosoph. Er führt ein B Corp-zertifiziertes Familienunternehmen, das sich mit der Herstellung und dem Lebenszyklus nachhaltiger Produkte beschäftigt. Weitere Artikel aus seiner Feder stehen hier.

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