Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben (Teil 1)

Beobachtungen über den Homo Anti-Ökonomikus

Von Katja Bartholmess und Marcel Pietsch-Khalili

Eine der frühen Erkenntnisse der Covid-19-Pandemie war es, dass Menschen mit Vorerkrankungen besonders gefährdet sind. Neu ist, dass diese Einsicht auch für unser Wirtschafts- und Gesellschaftssystem gelten dürfte.

Die Auswirkungen von Covid-19 sind gravierend für viele. Während Gastronomie und Friseure sicher von einem unvorhersehbaren Schicksalsschlag sprechen dürfen, waren die Auswirkungen in anderen Branchen keineswegs so unverhofft. Luftfahrt, Automobilindustrie, Reise- oder Öl-Branche haben schon seit Jahren strukturelle Schwierigkeiten und die globale Pandemie hat diese Probleme katalysiert und beschleunigt.

Ein Teil der Öffentlichkeit fordert nun aus nachvollziehbaren Gründen, dass staatliche Hilfen an Großkonzerne nur gezielt für zukunftsweisende Branchen und Technologien gegeben werden sollen. Dass Auflagen existieren sollen, die eine Auszahlung an Klima- und Sozialziele knüpft. Und dass diejenigen, die sich mit Steuergymnastik vor der gesellschaftlichen Verantwortung drücken auch keine von der Gesellschaft getragene Unterstützung bekommen dürfen.

Es ist eine oft übersehene Ironie, dass Unternehmen, die in der Vergangenheit das Primat des kapitalistischen Prinzips über soziale Fragestellungen postuliert haben, jetzt bedingungslose staatliche Hilfen für das eigene Überleben fordern.

Diese Krise ist nicht nur Brandbeschleuniger, sondern auch auch eine Chance für eine eigentlich längst überfällige gesellschaftliche Transformation. Und diese Transformation kann unseres Erachtens nicht als gradueller Systemwandel Erfolg haben, sondern nur als Revolution. Noch nie standen die Chancen so gut.

Ist das noch Systemwandel oder schon Revolution?

Vor kaum einem Begriff hat der westliche Wohlstandsbürger soviel Angst wie vor dem Wort Revolution. Der Duden spricht recht sachlich von: „Revolution: tief greifende Wandlung; umwälzende, bisher Gültiges, Bestehendes o. Ä. verdrängende, grundlegende Neuerung“. Wieso ist diese “grundlegende Neuerung” zu viel für die verunsicherte Volksseele? Warum setzen wir — wenn überhaupt — lieber auf einen behutsamen “Systemwandel”? Gerade in Zeiten bedeutender Veränderungen sind Geschwindigkeit und Richtung der Veränderung entscheidend für das Wohlergehen der Bürger und den Bestand von Institutionen. Michail Gorbatschow hat damals der DDR im Endstadium den wunderbaren Satz mitgegeben: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“.

Jede Gesellschaft basiert auf Paradigmen, also grundlegenden Glaubenssätzen, die von der Mehrheit unhinterfragt getragen werden und nur von einer kleinen Minderheit ernsthaft bezweifelt werden. Das prägende Paradigma der jetzt zu Ende gehenden Epoche des globalen Marktliberalismus ist die Kombination aus freier Marktwirtschaft und einer angenommenen Nutzlosigkeit der Politik. Bill Clinton hat im Präsidentschaftswahlkampf 1992 mit „It’s the economy, stupid!“ ein Meme kreiert, dass nur eine freie und von möglichst vielen Beschränkungen befreite Marktwirtschaft die Verteilung knapper Ressourcen bestmöglich organisieren und so den Wohlstand aller maximieren könne. Damit einher geht der Glauben vieler Bürger an eine unfähige oder zumindest nutzlose Politik, die es strukturell nicht versteht, Güter und Wohlstand gerecht und effizient zu verteilen.

Eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Denn wenn man alle üblicherweise in der öffentlichen Hand verorteten Verantwortungsbereiche auslagert und privatisiert, die nötigen Gelder und Ressourcen zusammenkürzt und alle politischen Akteure motiviert werden, sich dem “Willen der Wirtschaft” unterzuordnen, hat man am Ende tatsächlich eine nutzlose Regierung. Dabei gibt es deutlich optimistischere Sichtweisen und spannende Ansätze, das Selbstverständnis und den Handlungsrahmen des Staates als wertschaffenden, mutigen Treiber neu zu definieren. Mariana Mazzucato beschreibt das sehr eindringlich in ihrem Buch “The Entrepreneurial State.”

Covid-19 hat, mehr noch als die Bankenkrise 2008, den Glauben an den Marktliberalismus ins Wanken gebracht. Besonders eindrucksvoll scheitern derzeit die “freiesten” unter den Marktwirtschaften, nämlich die USA und Großbritannien, an der Aufgabe, ihre Bevölkerung zu schützen und mit lebensnotwendigen Gütern zu versorgen. Die Rechtspopulisten können auch nicht von einer Krise profitieren, deren Existenz sie vorher schlichtweg geleugnet haben. Das lässt Menschen sich wieder zur politischen Mitte orientieren, die ein ausgeglichenes Verhältnis von Staat und Markt fordert und für lebenswichtige Bereiche das Primat der Politik über die Wirtschaft stellt. Das ist nichts anderes als das Ende des Paradigmas von freie Marktwirtschaft und nutzloser Politik.

Angesichts der aktuellen medizinischen, sozialen, umweltbedingten und wirtschaftlichen Problemlagen hat unsere Gesellschaft nur ein verhältnismäßig kurzes Zeitfenster zur Bewältigung. Wie werden wir es nutzen? Zur Stimulation des Konsums und der Lösung der Probleme durch Wirtschaftswachstum — in anderen Worten, Business as usual? Oder bietet sie eine Chance zur Neuorientierung, weil unsere Paradigmen so stark erschüttert werden, dass sie sowieso gänzlich neu verhandelt werden müssen?

Wir hoffen auf Letzteres. Die Zeit ist reif. Die Methoden, die z.B. nach der Finanzkrise eingesetzt wurden, waren bestenfalls kurzfristige Notpflaster. Wir schlingerten schon vor COVID-19 in Richtung Rezession, machen wir uns nichts vor. Menschen sind schon eine ganze Weile skeptisch, ob dieser real existierende Kapitalismus wirklich das Beste ist, was wir als System zu bieten haben. Und bitte, der Kommunismus ist nicht die einzig denkbare Alternative. Das Kommunistische Manifest wurde vor 170 Jahren veröffentlicht; da darf man sich mal wieder ganz neue Zukunfts- und Gesellschaftsvisionen gönnen. Inklusiv soll es sein — das Zukunftssystem — im Einklang mit menschlichen Bedürfnissen und planetaren Kapazitäten soll es stehen, regenerativ und lebensbejahend. Let’s go!

Plötzlich erkennen wir die Systemrelevanz von Krankenschwestern und Supermarktkassierern, die wir zuvor über Jahrzehnte in den Niedriglohnsektor gedrängt haben. Wir erkennen, dass wir doch besser bedient sind, wenn wir unsere Gesundheitsvorsorge von der öffentlichen Hand und nicht von profitmaximierenden Wirtschaftsunternehmen bekommen. Und wir hoffen auf einen Staat, der uns in der Krise unterstützt und unser Wohlergehen und unsere Freiheit und Gesundheit vor dem Absturz bewahrt.

Das Zeitalter der “freien Marktwirtschaft” geht zu Ende und mit ihr das Paradigma der Wirtschaft als einzig relevante Bezugsgröße. Wir dürfen nicht vergessen, dass neue Herausforderungen vor der Tür stehen, deren gesellschaftlichen Folgen riesig sind im Vergleich zu einer Pandemie: Künstliche Intelligenz, Biotechnologie und allen voran der Klimawandel sind die Gamechanger der Zukunft. Ihre Folgen werden tief greifende Wandlung und umwälzende Neuerungen mit sich bringen und unsere Vorstellungen von Sicherheit, Freiheit und Wohlstand in neue Bahnen lenken.

Eine Revolution kann bei Zeitknappheit die Sicherung eines guten Lebens unter neuen Umständen bedeuten. Alte Pflaster schnell abreißen, damit die neue Haut darunter atmen kann. Wir sollten keine Angst davor haben, sondern diese Chance nutzen.

Ein eher unfreiwilliges Experiment: Der Homo Anti-Ökonomikus

Und was meinen wir genau, wenn wir vom “guten Leben” sprechen? Covid-19 hat neben den notwendigen Maßnahmen zur Seuchenbekämpfung auf einer anfangs unbeachteten Nebenbühne ein weiteres Experiment mit uns durchgeführt: Wie reagieren wir Menschen, wenn wir auf uns selbst zurückgeworfen werden? Wie passen wir uns den neuen Umständen an? Welche Prioritäten werden neu gesetzt?

Das westliche Wirtschaftssystem hat sich auf einen zwar fiktionalen aber dennoch sehr wirkungsmächtigen Idealtypus Mensch gestützt — den Homo Ökonomikus. Immer konsumierend, immer produktiv, immer egoistisch auf das eigene Wohl bedacht. Das perfekte Rädchen, das gemeinsam mit Milliarden anderen Rädchen die globale Wirtschaftsmaschine am Laufen hält und in das ewige Wachstum treibt.

Die aus unserer Sicht bemerkenswerteste Erkenntnis aus der Zeit des umfassenden Lockdowns ist, dass diese Kriterien auf einmal nicht mehr greifen.

Konsum war plötzlich bestenfalls zweitranging. Shopping, Reisen und Statussymbole verändern ihre Bedeutung. Und nicht nur, weil Ausgangsbeschränkungen den Weg zum Porschehändler behindern, sondern weil sich manche Dinge einfach als nicht mehr so wichtig entpuppten. Der Urlaub geplatzt und einen windigen Reisegutschein dafür bekommen? Ärgerlich, aber kein Weltuntergang, solange die Familie gesund bleibt.

Also haben wir eine Weile lang nur gekauft, was wir brauchten und gemerkt, dass wir Manches vermissen und Vieles nicht. Doch plötzlich schlugen Großkonzerne Alarm — Absatznot! — und wollten auf Staatskosten gerettet werden. Mal ehrlich: Wie zukunftsfähig ist ein System, das an seine Grenzen gerät, weil die Menschen ein paar Wochen lang nur das kaufen, was sie wirklich benötigen?

Auch der Blick auf die Produktivität hat sich geändert. Wer hält den Laden wirklich am Laufen? Priesen wir sonst den gutsituierten Managerkader als die Krone des beruflichen Erfolgs, standen wir plötzlich auf Balkonen und klatschten anerkennend für die Mitarbeiter*innen des Gesundheitswesens, winkten den Müllfahrern auf unseren distanzierten Morgenspaziergängen dankbar zu und selbst Bundeskanzlerin Angela Merkel hob die Bedeutung der Unsichtbaren hervor, wie diejenigen, die in den Supermärkten unsere Regale bestücken.

Die Frage, wie Arbeit organisiert werden muss, lässt sich heute ebenfalls differenzierter beantworten. Das Homeoffice funktioniert für viele ganz hervorragend, Unternehmen stellen fest, dass Mitarbeiter zuhause auch ohne umfassende Überwachungsmaßnahmen effizient arbeiten. Und oftmals sogar besser als im Großraumbüro mit Glasfenstern und Meetinginseln. Die ohnehin lästige Pendelei jeden Morgen im gleichen Stau mit den gleichen Leuten ist keine Notwendigkeit. Homeoffice funktioniert in manchen Firmen so gut, dass Twitter Inc. schon das Homeoffice zur Zukunft der Arbeit ausgerufen hat.

Natürlich legen wir auch egoistische Tendenzen an den Tag. Werden ungeduldig und wünschen das Ende der Einschränkungen herbei. Brechen mal die eine, mal die andere Regel. Eine viel deutlichere Sprache sprechen jedoch die Aushänge, die in den meisten Wohnhäusern zu finden sind: Nachbar*innen, die sonst in der hektischen Zeit kaum Zeit für ein Hallo finden, bieten plötzlich Hilfe beim Einkauf und anderen Erledigungen an. Man stellt sich auf einmal gegenseitig Tupperdosen mit Backwerk oder Kochexperimenten vor die Tür. Weil wir alle mehr zu Hause kochen und weil wir einfach soziale Wesen sind, die gern teilen, gern helfen und gern anderen eine Freude bereiten.

Sehr deutlich wird unser Mitgefühl und unsere Sorge umeinander in neuen oder zumindest erweiterten Umgangsformen: Wir geben einander in Gesprächen — privaten wie professionellen — auf einmal mehr Raum, über unser Befinden zu reden. Das “Wie geht es dir?” hat sich entfloskelt und man möchte wirklich wieder hören, wie das Gegenüber mit der neuen Situation umgeht. Und man traut sich wieder, ehrlich zu sein. Kein Happiness-Zwang. In einer globalen Pandemie mit hunderttausenden Toten muss nicht immer “Alles mega!” sein. Wir müssen nicht mehr so tun als ob. Manche Tage können einfach in die Tonne.

Was werden diese Entwicklungen aus uns machen? Wir haben gemerkt, dass wir mehr als nur Konsumenten sind. Mussten uns damit arrangieren, dass unser Job vielleicht weniger systemrelevant ist, als wir dachten. Und merkten, dass hinter der eigenen kühlen Fassade eine Person steckt, die gern teilt und hilft.

Diese Selbsterkenntnis ist Grundvoraussetzung für eine Revolution aus Einsicht. Gesellschaftliche Transformation ohne akuten Krieg und Hungersnot. Wir erkennen in der Krise echte Bedeutung und sie liegt jenseits von Konsum, Individualismus und Egozentrik. Der Homo Anti-Ökonomikus zeigt es uns, wer wir sein können.

Lasst uns “Anti” bleiben!

Notes:

Teil 2 dieses Artikels stellt das Paradigma der Wirtschaft als einzig relevante Bezugsgröße in Frage und überlegt, ob eine neue Generation verantwortungsbewusster Unternehmen als Motor gesellschaftlicher Transformation dienen kann.

Katja Bartholmess ist Strategin und Sozial-Anthropologin, setzt sich für Klima- und soziale Gerechtigkeit ein und ist am Aufbau der B Corp Bewegung in Deutschland beteiligt. Weitere Artikel aus ihrer Feder stehen hier.

Dr. Marcel Pietsch ist studierter Volkswirt und Philosoph. Er führt ein B Corp-zertifiziertes Familienunternehmen, das sich mit der Herstellung und dem Lebenszyklus nachhaltiger Produkte beschäftigt. Weitere Artikel aus seiner Feder stehen hier.

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