Der Lindy-Effekt: warum Sie bei Fragen von Leben und Tod auf Ihre Großmutter hören sollten

Die Zutaten:

  1. Ein Cafe in Downtown New York
  2. Ein Nobelpreisträger für Physik
  3. Mehrere hundert wahllose gegriffene Bürokraten/Experten, hier zum Beispiel bei der toxikologischen Bewertung von Chemikalien

Zunächst in das bekannte Cafe Lindy in New York, mittlerweile eine Touristenfalle, aber früher berühmt für seine Cheese-Cakes: hier treffen sich in den 60er Jahren Comedians, Schauspieler, Agenten und Rezensenten und diskutieren, welche Stücke On- und Off-Broadway gespielt werden, den künstlerischen Wert und schließen Wetten darauf ab, wie lange sich ein Stück noch halten kann. Dabei entdecken Sie en passant (zumindest, wenn man Benoit Mandelbrot glaubt1) einen Zusammenhang, der zwar Ihrer Großmutter schon lange bekannt ist, der aber erst Jahrzehnte später als Lindy-Effekt wissenschaftlich untersucht wurde. Wie lange sich ein Stück am Broadway halten kann, hängt davon ab, wie lange es schon gespielt wurde. Läuft ein Stück 10 Tage, dann liegt der Erwartungswert für die Restlaufzeit bei weiteren 10 Tagen… wenn es schon 100 Tage läuft, dann läuft es wahrscheinlich noch weitere 100 Tage usw. In den Worten von Mandelbrot: „However long a person’s past collected works, it will on the average continue for an equal additional amount. When it eventually stops, it breaks off at precisely half of its promise.“

Allgemein formuliert: „Die Lebenserwartung einer antifragilen2 Sache hängt von der bisherigen Lebensdauer ab„. Dies gilt für so verschiedene Güter wie Bücher, Ideen, Technologien, politische Systeme, oder eben Schauspielstücke am Broadway. Der Lindy-Effekt ist mit anderen Worten eine Aussage über die Überlebensfähigkeit einer Sache. Was sich im Zeitablauf bewährt hat, wird es wahrscheinlich weiter tun. Oder wie Ihre Großmutter vielleicht sagen würde: „Alte Besen kehren gut„.

KOMMEN WIR ZU EINEM PRAKTISCHEN BEISPIEL: Sie lesen also in der Zeitung, dass ein bestimmter Inhaltsstoff von irgendeiner offiziell klingenden Kommission als „potentiell krebserregend“ eingestuft wurde. Eine Interessengruppe schickt sofort eine Pressemitteilung, in der gefordert wird, diesen bestimmten Stoff sofort, mindestens aber schleunigst, zu verbieten. Die Presse nimmt diese Pressemitteilung aus und publiziert unter dem Titel „Babyflaschen vermutlich krebserregend“ o.ä. einen geharnischten Artikel, in dem die besorgte Bevölkerung auf diesen vermeintlichen Skandal hingewiesen wird. Sie sind besorgt, aber zu schlau, sich sofort in Panik versetzen zu lassen und beginnen, auf Google nach weiterren Informationen zu suchen.

Erstens, wie lange wird der Stoff schon eingesetzt? Siehe oben, Zeit ist ein Indikator für Technologie. Natürlich ist Fortbestand alleine noch kein Indikator für gesundheitliche Unbedenklichkeit, aber Sie dürfen davon ausgehen, dass findige Entwickler schon eine Menge unterschiedliche Materialien in den letzten 100 Jahren probiert haben und es gibt vermutlich einen guten Grund, warum der Stoff schon lange eingesetzt wird. Hmmm… seltsam.

Sie forschen weiter und fragen sich zweitens, wodurch der Stoff ersetzt werden soll? Hier wird es interessant. Vermutlich wird ein Stoff eingesetzt, weil er bestimmte technische Eigenschaften hat. Ein Ersatzstoff soll dann wohl die gleichen Eigenschaften ohne die (behauptete oder festgestellte) Gefährlichkeit besitzen, sonst könnte man ihn ja weglassen. Diese Eigenschaft basiert mit einer hohen Wahrscheinlichkeit auf bestimmten Eigenschaften (z.B. der Fähigkeit, Elektronen aufzunehmen) und die Ersatzstoffe haben dann wahrscheinlich eine ähnliche technische Funktion. Was nun, wenn die Gefährlichkeit genau auf dieser Eigenschaft beruht? Dann hat man einen Stoff durch einen anderen ersetzt, ohne die Volksgesundheit verbessert zu haben. Aber das hat man ja wahrscheinlich durch entsprechende Versuche ermittelt… glauben Sie!

Jetzt tritt ein Nobelpreisträger auf die Szene. Nicht ingendeiner, sondern der Physiker Murray Gell-Mann, der 1969 den Nobelpreis für seine Entdeckungen bei Elementarteilchen und deren Wechselwirkungen erhielt und dem die Ehre zuteil wurde, den Quarks3 ihren Namen geben zu dürfen. 2016 veröffentlichte Gell-Mann zusammen mit seinem Kollegen Ole Peters einen Beitrag mit dem nicht weiter bedeutend erscheinenden Namen „Evaluating gambles using dynamics“4, der in der Fachwelt für Furore sorgte, weil er eine Erkenntnis aufs Papier brachte, die Ihrer Großmutter ebenfalls seit Jahren vollkommen geläufig ist, die aber in der statistischen Analyse von ökonomischen, medizinischen, psychologischen oder soziologischen Daten in der Fachwelt 200 Jahre lang ignoriert wurde.

Peters und Gell-Mann (Sie werden es nicht glauben) haben festgestellt, dass es für eine bestimmte Klasse von Ereignissen (sog. nicht-ergodischen Prozessen) einen Unterschied macht, ob ich ein Ereignis 100 Mal gleichzeitig durchführe oder 100 Mal hintereinander. Der US-amerikanische Invensmentbanker Nassim Taleb 5 hat dafür ein anschauliches Beispiel gewählt. Stellen Sie sich vor, Sie machen einen Laborversuch im Russischen Roulette. 100 Personen bekommen je einen Revolver in die Hand, bei dem 2 von 6 Kammern mit einer Patrone gefüllt sind. Dann wird gespielt und nach dem Versuch sind vermutlich 33 oder 34 Personen tot, weil die Wahrscheinlichkeit für Überleben bei 4/6=66,6% liegt. 33,333 ist der sogenannte statische Ensemble-Erwartungswert für den Eintritt des Ereignisses „Proband hat unglücklicherweise eine Kammer mit Kugel erwischt“. Jetzt wiederholen wir den Versuch mit dem Unterschied, dass Sie 100 Mal nacheinander einen Revolver mit 2 gefüllten Kammern in die Hand bekommen und abdrücken. Wie verändert sich jetzt der Erwartungswert über die Zeitreihe? Ihre Großmutter kennt auch ganz ohne Stochastik das Ergebnis: mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit sind Sie tot!

Frage: Wenn Sie nun in einem Hochglanzprospekt lesen, dass ein Investment-Papier eine hohe Renditeerwartung besitzt, weil es in der Vergangenheit überlegene Marktrenditen erwirtschaftet hat, welche Rendite dürfen Sie dann für sich selbst erwarten?
Antwort: Keine Ahnung! Selbst wenn die Vorhersagen stimmen, kann ein Einzelner nicht die gleichen Renditen wie der Markt einsammeln. 100 Mal gleichzeitig ist eben etwas anderes als 100 Mal hintereinander.
Oder allgemeiner formuliert: Bei nicht-ergodischen Prozessen stimmt der Ensemble-Erwartungswert nicht mit dem Zeitreihen-Erwartungswert überein.

Und jetzt raten Sie, wie in der ökonomischen, medizinischen, politischen und sonstigen datenbasierten Forschung und bei so gut wie allen Kosten-Nutzen-Analysen „aus Gründen der einfacheren Handhabung“ Erwartungswerte für Zeitreihenprozesse definiert wurde: genau… nach der Ensemble-Methode!

So, jetzt kommen die Experten, die werden ja wissen, was zu tun ist. Sie stellen also die dritte Frage: wie haben die Experten die Schädlichkeit ermittelt? Und Sie stellen fest, dass in einem Experiment 100 Nagetiere über 12 Monate mit einer Dosis von 120 Microgramm pro kg Körpergewicht behandelt wurden und dass dies medizinisch zu einem signifikanten Anstieg von Krebs unter den 100 Nagetieren geführt hat. Und deshalb soll ein Stoff verboten werden, der sich im Schleifstaub eines Fußbodens finden kann. Moment, Sie hatten doch gerade von Gell-Mann gelesen, dass Ensemble-Risiko nicht gleich Zeitreihenrisiko ist. 12 Monate Exposition, Sie schleifen doch Ihren Fußboden nicht 12 Monate lang… hier müsste doch das Ensemble-Risiko untersucht werden. Da sind Sie schlauer als die Experten der europäischen Chemikalien-Behörde ECHA, die kennen den Unterschied nicht. Aber es geht noch weiter, denn der Ersatzstoff ist ja sicherer als der möglicherweise krebserregende Stoff. Das glauben aber nur Sie! Sie fragen einen befreundeten Chemiker und der sagt Ihnen, dass der Ersatzstoff aus der gleichen Stoff-Familie kommt (sonst würde er die Funktion nicht ersetzen können) und dass zu diesem Stoff noch keine toxikologischen Erkenntnisse vorliegen; deshalb gelte er als „vorläufig unbedenklich“. Und bitte glauben Sie nicht, dass sei ein konstruiertes Beispiel. Lesen Sie mal die wissenschaftliche Literatur zu Cobalt, einem Stoff, der seit vielen Jahren in der Farbtrocknung eingesetzt wird. Die bekannte (vielfach untersuchte und und eng umgrenzte) Gefahr wird durch eine vollkommen unbekannte Gefahr ersetzt. Sagen wir es in der Sprache der Mathematik: ein gut beherrschbares Thin-Tail-Risiko wird durch ein potentielles Fat-Tail-Risiko mit unbekannten Risikoparametern ersetzt. Und das soll der Verbesserung der Verbrauchergesundheit dienen.

Aber es geht auch anders herum. Fragen Sie mal einen bekannten Konzern für gentechnisch manipulierte Pflanzensamen, wie er die Ungefährlichkeit seines Produktes und die fehlende Kreuz-Kontamination anderer Pflanzen- und Tierarten bewiesen hat. Mit Versuchen auf 200 Feldern über je 8 Wochen. Ich vermute, Sie benötigen keine 10 Sekunden, um den Schildbürgerstreich darin zu erkennen.

Gegen eine permanente Verbesserung von Produkten durch medizinische Untersuchungen ist nichts einzuwenden, im Gegenteil. Aber Unkenntnis führt zu nichts Gutem, das wusste schon Ihre Großmutter.

Beispiele zum Nachdenken:

  • Kaufen Sie ein Wertpapier, das in den letzten 50 Jahren durchschnittlich 17% Rendite erzielt hat?
  • Fahren Sie durch ein Flussbett, das im Schnitt 1m tief ist?
  • Wer bewacht die Wächter? (Quis custodiet ipsos custodes?)
  • Die EU hat Bisphenol A in Plastikflaschen inzwischen als besonders besorgniserregend eingestuft
  • Besorgt Sie die Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen in XXX-Land?
  • Sind Wasserpfeifen gefährlicher als Zigaretten

Nachweise:

(1) Mandelbrot, B.B (1984). The fractal geometry of Nature. Freeman, S. 342.

(2) Fragil hinsichtlich eines Ereignisses sind Güter, die sensibel auf externe Einflüsse reagieren (z.B. Prozellanvasen bei einem Erdbeben). Anti-fragil sind Güter, deren Selektionsmechanismus evolutionär ist, z.B. Ideen, Bücher, Technologien, politische Systeme, etc.

(3) Gell-Mann bezieht sich dabei auf eine Zeile aus dem Roman „Finnegan’s Wake“ von James Joyce. Die Zahlen 3 und 8 spielten bei der Erforschung der Quarks eine Rolle; so setzte er die 3 symmetrisch neben die 8 und wählte dann in James Joyces „Finnegan’s Wake“ auf Seite 383 ein Wort. Dort heißt es „Three quarks for Muster Mark“. Wahrscheinlich sind damit drei Biere gemeint.

(4) Direkt zum Artikel: https://arxiv.org/pdf/1405.0585.pdf

(5) Taleb, N. (2018). Skin in the game. Allen Lane.

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