The Power of Langlebigkeit

Es gibt Fragen (wie beim Lindy-Effekt), deren Antwort zwar jede Großmutter intuitiv kennt, die aber in der öffentlichen Diskussion selbst unter Fachleuten oft falsch gestellt werden. Oder wie H.L. Mencken zu sagen pflegte: „… there is always a well-known solution to every human problem — neat, plausible, and wrong“. Schön, wenn man das bei anderen entdeckt. Noch schöner, wenn es einem bei sich selbst auffällt.

Aber zum Thema. Viele Unternehmen und so auch wir wenden viel Arbeit und Energie auf, um den Footprint ihrer Produkte zu verringern, z.B. durch

  • Verbesserung der eingesetzten Materialien (aus 100% Bio-Baumwolle, jetzt ohne Parabene usw.)
  • Reduzierung des Footprints in der Produktion (ohne schädliche Chemikalien, aus 100% Recycling-Kunststoff, etc.)
  • Optimierung der Logistik (z.B. regional, CO2-neutral)
  • Zuführung zu Recyclingsystemen (Pfandsystem, aus Monomer-Kunststoff usw.)
  • Kompensation des Footprints bei einer ClimateFairGroup

Jeder kennt das. Wenn wir den Planeten retten wollen, kann es gar nicht genügend Lösungen geben, die den Footprint der Aktivitäten minimieren.

Und vor ein paar Jahren stießen wir auf die Frage, welcher Faktor am effektivsten zur Footprint-Minimierung beiträgt. Arbeiten wir primär an nachwachsenden Rohstoffen oder hat die Verpackung einen größeren Hebel? Welchen Impact hat es, wenn wir unsere Logistik CO2-neutral stellen oder müssen wir mehr Gewicht auf CO2-Kompensation legen? Gibt es einzelne Aspekte, die wir zuerst angehen sollten, weil sie schnellere Reduktion versprechen?

Hätten wir unsere Großmütter gefragt, hätten sie uns die richtige Antwort gleich geben können. Aber wir haben sie nicht gefragt und uns deshalb strukturell mit der Mechanik der Footprint-Reduzierung beschäftigt. Die Frage für uns war nicht, ob wir A, B oder C machen (es war immer klar, dass wir alles tun werden), sondern in welcher Reihenfolge die Maßnahmen am effektivsten sind.

Wir haben uns die rechnerische Mechanik eines ökologischen Fußabdrucks mal näher angesehen anhand folgenden Modells:

Es soll an dieser Stelle nicht mathematisch werden, obige Formel besagt lediglich, dass die Veränderung des Footprints eines Produktes oder einer Dienstleistung von folgenden Faktoren abhängt:

  • Der Veränderung des Footprints zu Beginn des Lebenszyklus („Beginning of Lifecycle“) – im Sprachgebrauch etwas unscharf auch oft als „Produkt-Footprint“ bezeichnet
  • Der Veränderung des Footprints zum Ende des Lebenszyklus („End of Lifecycle“) – oft als „Recycling-Footprint“ bezeichnet
  • Der Veränderung der Lebensdauer (gemessen in Austauschzyklen pro betrachteter Zeiteinheit)
  • abzüglich der Kompensationsmaßnahmen zur Reduzierung des Footprint (z.B. durch CO2-Kompensationsprojekte o.ä.)

Für den Moment vernachlässigen wir die Kompensation (diese ist ja produktunabhängig) und stellen die betrachtete Zeit auf einen unendlichen Horizont, dann ergibt diese Gleichung ein einfacher verständliches Bild:

Um Footprint zu verringern hat man drei Stellschrauben, das Produkt an sich, das Recycling und die Lebensdauer. Dabei wird der Wirkungsgrad der Lebensdauer oft systematisch unterschätzt. Aus obiger Formel ergibt sich mathematisch (um die Berechnung zu vereinfachen setzen wir die Footprints und die Austauschhäufigkeit dimensionslos auf 1 und kommen so im Ausgangszustand auf einen Gesamtfootprint von (1+1)*1=2:

  • Eine Verringerung des Produkt-Footprints (z.B. durch nachwachsende Rohstoffe, weniger Materialverbrauch, optimierte Produktionsverfahren, etc.) um 10% reduziert den Gesamtfootprint um 5%
  • Eine Verringerung des Recycling-Footprints (z.B. durch Zuführung zu einem Recyclingsystem, erneute Nutzung von Materialien, etc.) um 10% reduziert den Gesamtfootprint ebenfalls um 5%
  • Eine Steigerung der Lebensdauer um 10% reduziert den Gesamtfootprint jedoch um volle 10%

Lebensverlängernde Maßnahmen sind in Fällen, bei denen der Produkt- und Recyclingfootprint in etwa gleich groß sind (und das ist bei vielen physischen Produkten der Fall), rechnerisch doppelt so effektiv wie Veränderungen am Produkt oder deren Entsorgung.

Das bedeutet natürlich keinesfalls, dass man Letzteres nicht machen sollte (im Gegenteil), es verdeutlicht aber, dass Lebensdauer unter Effektivitätsgesichtspunkten die erste Wahl ist, wenn es darum geht den Footprint zu verringern.

Diese simple „mathematische Wahrheit“ hat Implikationen auf die Welt.

Zwei praktische Beispiele: natürlich ist ein IKEA-Holzregal eine prima Sache und ich bin sicher, IKEA verwendet viel Zeit darauf, den Footprint des Regals, der Herstellung, Logistik und Entsorgung zu optimieren. Doch wieviel effektiver wäre es, wenn alle diese Energie zunächst dahin gegangen wäre, die Lebensdauer zu erhöhen? Auf der anderen Seite ist Paragonia eines der wenigen Unternehmen, das ich kenne, das diesen Ansatz beherzigt. Die verwenden viel Energie darauf, dass Kunden ihre Klamotten reparieren und das ist ein sehr gutes Beispiel für die Power der Langlebigkeit.

Warum scheuen viele Unternehmen diesen Weg? Hier scheinen zwei Gründe bestimend. Erstens verkauft man weniger von seinen Produkten, wenn sie länger halten. Dazu kommt, dass die meisten gesetzlichen Regularien nur Verbesserung im BoL oder EoL-Footprint incentivieren (oder erzwingen), es jedoch für Verbesserungen der Lebensdauer meist keine staatliche Unterstützung oder Sanktionsandrohung gibt. Das bedeutet, dass die Incentivierung der Unternehmen sich auf die ineffektiveren Bereiche konzentriert, während die Verbesserung der Lebensdauer im ersten Schritt nur Umsatz kostet.

Was kann Unternehmen incentivieren, die Power of Langlebigkeit zu nutzen?

In einer vielbeachteten Studie hat die Unternehmensberatung Simon-Kucher & Partners 2021 über 10.000 Menschenbefragt, ob und wieviel sie bereit wären, für nachhaltigere Produkte mehr zu bezahlen. Ergebnis der Studie: 34% der Befragten gaben an, für Nachhaltigkeit mehr bezahlen zu wollen und der durchschnittlich akzeptierte Aufschlag betrug ca. 18% auf den Preis, was für viele Unternehmen ein Inventive sein kann, ihre Produkte langlebiger zu machen (recherisch wären so 15% weniger Umsatz durch den Aufpreis für ein Unternehmen umsatzneutral). Unter der (heute noch mit geringer Kaufkraft gesegneten) Generation Z liegt der akzeptierte Aufschlag sogar bei 32%.

In selbiger Studie wurde untersucht, welche Kriterien die Kunden als Gradmesser für Nachhaltigkeit sehen. Sehr zum Leidwesen der Forscher ist das wichtigste Kriterium dafür… richtig: Lebensdauer! Es scheint, dass nicht nur meine Großmutter, sondern auch der Ottonormalverbraucher einen guten Riecher für die Power of Langlebigkeit besitzt.

aus obiger Studie

Die Forscher schreiben diesen Umstand einem „…Mangel an tiefem Wissen…“ zu, vielleicht sind aber die Kunden an dieser Stelle mindestens genauso schlau, wie die Forscher selbst.

Wie wir das Thema sehen

Als Unternehmen mit einer langen Nachhaltigkeitstradition liegen uns diese Themen natürlich besonders am Herzen. Und selbstverständlich arbeiten wir sehr aktiv auf der Produktseite (z.B. mit Das PNZ-Öl) und auf der Kreislaufseite (z.B. Wandfarbe ohne Abfall). Aber mit der Erkenntnis, dass Lebensdauer der effektivste Weg zur Senkung des Footprints ist, hatten auch wir unseren „Großmutter-Moment“. Irgendwann in den Analysen und der Diskussion schauten wir unsere Wall-of-fame mit alten Werbeanzeigen und Dosenbildern an und was fanden wir auf einer Anzeige aus den 80-er Jahren? Den Slogan „Langlebigkeit ist der beste Umweltschutz„! Irgendwie mussten auch wir uns im 21. Jahrhundert neu erarbeiten, was unsere Gründer längst wussten.

Aber Nachhaltigkeitsbemühungen, das ist einfach eine ökonomische Realität, haben auch ihren Preis. Zum einen investieren wir jedes Jahr ca. 10% unseres Umsatzes in unsere Forschung zu Chemie aus nachwachsenden Rohstoffen (und wenn es gut läuft bekommen wir einen Teil davon über öffentliche Forschungsmittel wieder zurück). Zum anderen sind Rohstoffe, die eine Holzbeschichtung langlebiger machen, einfach teurer als „normale“ Rohstoffe. Als Faustformel kann man sagen, dass eine 3-4 fache Lebensdauer – wenn sie mit nachwachsenden Rohstoffen formuliert ist – einen Preisaufschlag von etwa 35% mehr kostet. Das liegt im Rahmen der Zahlungsbereitschaft der Generation Z, aber noch überhalb des Durchschnitts aus obiger Studie. Und das hat natürlich Auswirkungen auf den Produktpreis, so dass wir niemals die Billigsten sein werden und wollen.

Wir arbeiten dafür, das nachhaltige Baumaterial Holz langlebig (und hoffentlich schön) zu machen, weil Holz nur dann ein nachhaltiges Material ist, wenn es lange lebt. Wir machen das heute mit einer klaren Wertehierarchie, die wir in unseren Prinzipien niedergelegt haben: zuerst Qualität und Lebensdauer und dann so nachhaltig wie möglich.

Notes:

PS: Das Bild zu diesem Artikel ist die Fichte „Alt Tjikko“, der vermutlich älteste Baum der Welt. Stolze 9500 Jahre alt. Steht in Schweden und war schon auf der Welt, als der Meeresspiegel noch 120 Meter unter dem heutigen lag.

Dr. Marcel Pietsch ist studierter Volkswirt und Philosoph. Er führt ein B Corp-zertifiziertes Familienunternehmen, das sich mit der Herstellung und dem Lebenszyklus nachhaltiger Produkte beschäftigt.

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