
Warum sprechen wir über die Zukunft, als wäre sie eine Fortsetzung der letzten 30 Jahre mit anderen Mitteln?
Es ist in den letzten Jahren den meisten Menschen klar geworden, dass 10 bis 20 Jahren das globale CO2-Budget aufgebraucht ist und dass es dann ungemütlich werden kann. Umweltfreundlicher soll alles werden und sozial gerechter.
Aber irgendwie gehen alle davon aus, dass das ohne nennenswerte Einschnitte für den Einzelnen geschehen kann. Ein bisschen Windkraft, Elektroautos und weniger Fleisch essen, dazu Technologie (uns wird schon was einfallen) und viele neue grüne und soziale Unternehmen, die Wirtschaft wächst dann eben in anderen Feldern. Irgendwie.
Die ökonomische Entsprechung dieser Idee heißt Grünes Wachstum. Dabei sei Wachstum, so heißt es gerne, kein Selbstzweck, sondern sichere Wohlstand, Beschäftigung und unseren Sozialstaat. Oder wie mir der FDP-Parteivorsitzende Christian Lindner auf Linkedin antwortete: “Wir sollten Wirtschaft und Klimaschutz nicht als Gegensätze sehen, gute Klimapolitik stärkt die Wirtschaft. Aber nicht durch Verbote, Regulierungen und höhere Steuern.”
Mein Problem damit ist, dass ich intuitiv nicht verstehe, wie das funktionieren soll, nicht theoretisch – und schon gar nicht praktisch.
Die Fragestellung
Man soll ja nicht sofort auf seine liebgewonnenen Überzeugungen zurückfallen, sondern sich die Zeit nehmen, die Fragestellung richtig zu formulieren.
In den letzten 150 Jahren ist die Wirtschaft stark gewachsen und damit waren viele Vorteile verbunden. Die Lebensqualität ist – bei allen Problemen – in quasi allen Bereichen des Lebens und in allen Regionen heute deutlich besser als vor 150 Jahren. Das durchschnittliche Einkommen ist in diesem Zeitraum deutlich gestiegen (auch, wenn in den letzten 30 Jahren sich einige Ungleichgewichte gebildet haben), die Lebenserwartung ist gestiegen, das Bildungsniveau ist besser. Und dieser globale Fortschritt spielte sich auf zwei großen Spielfeldern ab:
- dem Wachstum der Weltbevölkerung
- einem quasi unterbrechungsfreien Wachstum des Pro-Kopf-Einkommens in fast allen Regionen der Welt
Beides zusammen führte zu einem globalen Wirtschaftswachstum von durchschnittlich 2-3% pro Jahr. Nur bringt dieses Wachstum eben nicht nur eine Verbesserung der Lebensumstände, sondern auch negative Konsequenzen für die Umwelt mit sich. Für die nächsten 30-70 Jahre verstecken sich hinter Grünem Wachstum in Wirklichkeit drei Fragen:
- Die Magnitude des Problems: wie sehr wollen/müsen wir in diesem Zeitraum wachsen, damit die Gesellschaft in der bestehenden Form weiter funktioniert?
- Die Konsequenzen bei Zielerreichung: was bedeutet dieses Wachstum für die Gesellschaft und die Umwelt?
- Alternative Entwicklungspfade: gibt es “grüne Alternativen”, mit denen sich die Vorteile des Wachstums erzielen lassen, ohne die negativen Effekte?
Wie sehr wollen wir eigentlich wachsen müssen?
Zwei gängige Ansätze dazu sind:
Wir müssen wirtschaftlich wachsen, …
- bis alle Menschen auf der Erde das Wohlstandsniveau eines durchschnittlichen Europäers erreicht haben
alternativ: - bis alle Menschen ein Einkommensoptimum* von ca. 15.000 USD p.a. erreicht haben. Man müsste dazu annehmen, dass die Besserverdienenden dann Wohlstand abgeben und mit den Schlechterverdienenden teilen – zumindest im weltweiten Durchschnitt. Das würde natürlich weniger Wachstum erfordern als die erste Variante.
Dazu ein paar Zahlen. Das weltweite BIP (Bruttoinlandsprodukt) betrug in 2020 ca. 83,8 Billionen USD. Pro Kopf sind das 11.433 USD im weltweiten Durchschnitt (zum Vergleich: in der Europäischen Union beträgt das BIP / Kopf ca. 34.913 USD). Dazu gesellt sich eine historisch als gesund empfundene Wachstumsrate von 3% pro Jahr, dann können wir rechnen.
Szenario “Glücksoptimum” | Szenario “Leben wie in Europa” | |
---|---|---|
BIP pro Kopf heute | 11.433 USD | 34.913 USD |
BIP pro Kopf in 2050 (mit 3% Wachstum p.a.) | 36.408 USD | 84.743 USD |
Weltbevölkerung | 9,7 Milliarden | 9,7 Milliarden |
BIP global in 2050 | 353 Billionen USD | 822 Billionen USD |
Die Weltwirtschaft ist 2050 (…) mal so groß wie heute | 4,2 | 9,8 |
Eine 4-10 mal so große Weltwirtschaft in 2050 gegenüber heute? Ein seltener Moment der Einmütigkeit für Umweltschützer, Industriekapitäne, Ökonomen, Politiker und besorgte Wutbürger: wir haben nicht mal im Entferntesten eine Idee, wie das funktionieren soll.
Die Ökologen sagen: dieses Wachstum ist nicht mal zu erreichen, wenn man die vollständige Zerstörung der Umwelt in Kauf nimmt. Die Ökonomen sagen: dann muss sich das Wirtschaftswachstum von der materiellen Inanspruchnahme der Umwelt eben entkoppeln.
Kann es Grünes Wachstum geben?
Normalerweise erzeugt die Produktion einer Tonne Stahl etwa 1,7 Tonnen CO2. Doppelt soviel Stahl bedeutet doppelt soviel CO2-Ausstoß. Diese Mechanik gilt natürlich nicht nur für Stahl, sondern für die direkten Emissionen vieler menschlicher Aktivitäten (Autofahren, Fliegen, Rinderfilet, usw.).
Entkopplung des Wachstums bedeutet, dass der Umwelt-Footprint einer Aktivität trotz weiteren Wachstums nicht weiter mitwachsen darf. Also verbergen sich hinter dem Schlagwort “Entkopplung” in Wirklichkeit zwei Ziele:
- die wirtschaftlichen Aktivitäten heute (BIP ca. 83 Billionen USD) müssen in ihrem Footprint auf nahe null reduziert werden
- und das weitere Wachstum bis 2050 (BIP ca. 400 Billionen USD – 83 Billionen USD = 317 Billionen USD) darf auch keinen weiteren Footprint erzeugen.
Woher kommt die Reduktion des Footprints bestehender Wirtschaftsaktivitäten?
Wir wollen uns an dieser Stelle nicht mit den vielschichtigen Herausforderungen und Problemen der Klimaneutralität beschäftigen, dem interessierten Leser sei dieser Beitrag empfohlen. Aber ein paar Einstiegs-Maßnahmen sind so klar, dass sie fast schon trivial sind:
- Der Ausstieg aus der Verbrennung fossiler Brennstoffe
- Die Investition in Energietechniken ohne skalierenden Footprint (Sonne, Windkraft, Wasserstoff)
- Die Forschung an alternativen, CO2-neutralen Werkstoffen
Und dann die Themen, die schwierig sind, zum Beispiel:
- Die Umstellung der Bauindustrie auf nachhaltige und/oder kreislauffähige Baumaterialien (Holz, Monokunststoffe, etc.)
- Die Forschung an CO2-Removal aus der Atmosphäre
- Die sozialen Fragen (Grundeinkommen, Besteuerung, etc.)
Alleine aus dieser Aufstellung wird klar, dass die Dekarbonisierung der Wirtschaft eine Herkulesaufgabe wird. Leicht wird das nicht, aber es ist eines der wenigen Themen, die nun wirklich alternativlos sind.
Wie könnte das notwendige weitere Wirtschaftswachstum klimaneutral erfolgen?
Es wird oft gesagt, das Grüne Wachstum käme in der Zukunft vor allem aus dem Dienstleistungssektor. Man denkt da unwillkürlich an Consulting, App-Programmierung und medizinische Fußpflege, deren Footprint gegenüber den alten, schmutzigen Technologien wie Stahlkochen deutlich niedriger ist. Also wollen wir wahrscheinlich vor allem im Dienstleistungssektor wachsen und der macht ja heute schon 60% der Weltwirtschaft aus… das klingt doch nach einem vernünftigen Weg.
Allerdings beruhen viele der Ideen zu Grünem Wachstum durch Dienstleistungen auf einer nicht ganz realitätsnahen Definition (oder besser: Vermutung), was sich hinter dem Dienstleistungssektor verbirgt. In der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung zählen zum Dienstleistungssektor “… die Wirtschaftsbereiche Handel, Gastgewerbe und Verkehr, Finanzierung, Vermietung und Unternehmensdienstleister sowie öffentliche und private Dienstleister.”
Nur etwa 4% des weltweiten BIP sind generisch “footprintarme” Dienstleistungen (kleine Einzelhandelsgeschäfte, körpernahe Dienstleistungen, etc.). Das bedeutet, dass die Flucht in eine CO2-neutrale Dienstleistungsgesellschaft auf dem Weg zu weiterem Wachstum im Wesentlichen die gleichen Herausforderungen an uns stellt wie die Dekarbonisierung der bestehenden Wirtschaft.
Eine Zwischen-Zusammenfassung
- Die Dekarbonisierung der bestehenden Wirtschaft ist eine Aufgabe ungekannten Ausmaßes. Ob es überhaupt gelingen kann, ist unklar. Klar ist nur, wenn wir so weitermachen, sägen wir weiter kräftig an dem bereits instabilen Ast, auf dem wir selber sitzen.
- Eine klimaneutrale (dekarbonisierte, umweltschonende) Vervielfachung der heutigen Weltwirtschaft ist realistisch nicht modellierbar. Darüber nachzudenken ist angesichts der immanenten Probleme heute geradezu naiv.
Deutlich erfolgversprechender klingt es es, die Welt des Wachstums hinter uns zu lassen und uns auf die Jahrhundertaufgabe “Dekarbonisierung der bestehenden Wirtschaft” zu konzentrieren. Und die Wachstumsidee als Ganzes aufzugeben. Aber ginge das überhaupt?
Wachstum erfüllt nämlich in unserem Wirtschaftssystem nämlich durchaus einige zentrale Funktionen:
- Die Finanzierung der Infrastruktur und Teilhabe ärmerer Gesellschaftsmitglieder durch Abschöpfung von Überschüssen durch Steuern, Beiträge, etc.
- Die Motivation der Wirtschaftsakteure zu innovativem Handeln (zumindest wenn man Politik und Wirtschaftsverbänden glaubt)
- Die Stabilisierung des gesellschaftlichen Zusammenhaltes durch positive Zukunftserwartungen (leider, möchte man sagen, glauben wir ständig daran, dass es in der Zukunft besser wird und beruhigen uns damit)
Als wir diesen Artikel schreiben, ist gerade die Bundestagswahl 2021 in Deutschland zu Ende gegangen. Und es ist schon auffällig, dass überhaupt keine Partei wahrnehmbar in ihrem Programm die Abkehr von einer Wachstumswirtschaft fordert – nicht “Die Grünen” und nicht mal “Die Linke”. Jetzt ist Deutschland ein durchaus für seinen Wohlfahrtsstaat zu recht gelobtes Gemeinwesen – aber keine politische Gruppierung, die gewählt werden möchte, denkt das Naheliegende: eine Wirtschaft ohne Wachstum. Woher kommt das und warum ist der Wachstumsbegriff so fest in unserer Vorstellungswelt verankert, dass wir uns eine Welt ohne Wachstum nicht mal vorstellen können?
Denkspiele: Wirtschaft ohne Wachstum?
Was, wenn unsere Ansätze, die Klima-Probleme zu lösen, genau die Ursache für eine weitere Verschlechterung sind?
Der ehemalige und unrühmliche US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld rechtfertigte die schwerwiegenden Übergriffe in der staatlichen Terrorismusabwehr mit den sogenannten “Unknown unknowns”. Von machen Sachen wissen wir, dass wir sie wissen. Andere wissen wir, merken es aber nicht. Und dann gibt es Dinge, von denen wir wissen, dass wir sie nicht wissen. Das Problem, so Rumsfeld, liege aber in einer vierten Kategorie, den Dingen, von denen wir gar nicht wissen, dass wir sie nicht wissen, Könnte es sein, genau zu dieser vierten Kategorie unsere Maßnahmen gegen den Klimawandel gehören? Was könnten diese blinden Flecken sein?
Known knowns: Die eine Seite tut so, als könnte alles so bleiben und die andere Seite lenkt die Menschen vom Wesentlichen ab.
Wir wissen, dass etwas Unsinn ist, aber wir handeln nicht danach. Es soll noch Menschen geben, die glauben, dass alles so bleiben könne, wie es ist. Aber es sind nicht mehr viele. Selbst Wirtschaftsminister Altmeier wird seinen Ausspruch “Klimaschutz wird dann nur funktionieren, wenn unser Wohlstand dadurch nicht gefährdet wird” mittlerweile bedauern. Der ist natürlich genauso logischer Unsinn wie “Impfen wird nur dann funktionieren, wenn unsere Gesundheit dadurch nicht beeinträchtigt wird”. Der Schutz vor einem Risiko gefährdet definitionsgemäß die Aktivitäten, die das Risiko auslösen. Aber zumindest nach meiner Einschätzung nimmt diese Form der kognitiven Dissonanz in der Öffentlichkeit ab.
Denn schließlich kann jeder Einzelne zur Lösung beitragen, nicht wahr? Wenn nur genügend Menschen auf ihren “Klima-Fußabdruck” achten, dann werden die vielen kleinen Schritte viel bewegen. Was nicht so bekannt ist: die Ölindustrie (und hier vor allem BP) gehörten zu den ersten und entschlossentsten Verfechtern der Propagandatechnik der personalisierten Verantwortung, dann sie hat für die Industrie einen angenehmen Nebeneffekt: der Konsument konzentriert sich auf seinen eigenen Fußabdruck und der regulatorische Druck auf die Unternehmen lässt nach. Das, so Michael E. Mann, einer der führenden US-amerikanischen Klimaforscher, stelle die Tatsachen aber auf den Kopf: “Denn 100 fossile Unternehmen sind für 70% des menschengemachten CO2-Ausstoßes verantwortlich. Ich sehe da eine Menge Ablenkungsmanöver…”. (Der Spiegel vom 20.03021).
Könnte ein blinder Fleck darin bestehen, dass wir die Ursache der Probleme nicht sehen können, weil wir nach 9.000 Jahren Kulturmensch betriebsblind geworden sind. Was würde eine KI dazu sagen, wenn wir ihr die Steuerung des Überlebens unseres Planeten anvertrauen? Würde sie das Bevölkerungswachstum als wichtigsten Punkt sehen und welche Abwägung zwischen der bevölkerungsstabilen westlichen und der stark wachsenden östlichen Welt würde sie treffen? Oder berücksichtigt sie die historischen Emissionen und weist den developing societies höhere CO2-Budgets zu?
Alles interessante Fragen, deren Antwort man nie zu erfahren hofft, weil man sie erahnen kann. Oder würde diese superintelligente KI ganz andere Themen adressieren. Zum Beispiel die Frage, was eigentlich die Aufgabe der Menschen auf der Erde ist.
Man mag das bedauern, aber zumindest drängt sich bei näherer Betrachtung noch nicht der Gedanke auf, dass dieser blinde Fleck unüberwindbar sein könnte. Das könnte sich bei der Betrachtung der inneren Systemwidersprüche ändern.
Unknown knowns: Innere Widersprüche
Manchmal vergisst man, was man weiss. In der Philosophie ist das immer auch eine Frage des Timings. Für wenige große Philosophen trifft das so zu wie für Karl Marx. Vor 154 Jahren veröffentlichte er mit dem ersten Band zu “Das Kapital” (Engels veröffentlichte nach Marx’ Tod die beiden weiteren Bände) seine Kritik an der kapitalistischen Produktionsweise und erkannte systemimmanente, innere Widersprüche, die heute angesichts der Klimakrise sehr aktuell erscheinen.
Marx’ Analyse gilt auch deshalb als brilliant, weil er nur von wenigen, allgemein anerkannten Grundannahmen hinsichtlich der Struktur des Kapitalismus ausging: Er definierte dabei Gesellschaften mit kapitalistischer Produktionsweise als Klassengesellschaften, in denen sich das Privateigentum an den Produktionsmitteln durch die Indienstnahme von Lohnarbeit vermehre. So akkumuliere sich der Reichtum in Form von Kapital, während seine Produzenten dauerhaft von ihm ausgeschlossen seien: Beteiligt am Reichtum seien laut Marx die Arbeiter nur insoweit, als die Benutzung ihrer Arbeitskraft ihre Entlohnung notwendig mache. Das ist sehr nah an den heutigen Definitionen des Kapitalismus (hier aus Wikipedia): “Allgemein wird unter Kapitalismus eine Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung verstanden, die auf Privateigentum an den Produktionsmitteln und einer Steuerung von Produktion und Konsum über den Markt (Marktwirtschaft) beruht. Als weitere konstitutive Merkmale werden genannt: die Akkumulation (für manche das „Herzstück“, Hauptmerkmal und Leitprinzip des Kapitalismus), „freie Lohnarbeit“ und das „Streben nach Gewinn im kontinuierlichen, rationalen kapitalistischen Betrieb“.
Dabei identifizierte Karl Marx intrinsische innere Widersprüche, die ein solches auf den Prinzipien des Kapitalismus gebautes System nicht vermeiden könne. Herauszuheben sind:
- Der innere Widerspruch zwischen Nutzwert und Tauschwert, der dazu führt, dass Güter im K. regelmäßig oberhalb ihres Nutzwertes bepreist sind, was zur Bildung von Spekulationsblasen führt, an deren Ende meist eine höhere Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen steht.
- Die Problematik, dass eine auf Wachstum basierende Ökonomie irgendwann an Grenzen stößt, und Wachstum ab einem bestimmten Punkt nur noch durch exportierte Armut zu gewährleisten ist. Als Beispiele hierfür wird oft angeführt, dass das “Kapital” schon in einer frühen Industrialisierungsphase in den wohlhabenderen Staaten an Grenzen stieß und zunächst durch Kolonialisierung, später durch Outsourcing in Billiglohnländer gesichert werden musste. Als Ende der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts die Wachstumsraten als eine als gesund geltende Reddite von ca. 3% jährlich nicht mehr im Produktionskapital finden konnte, verlagerte sich das weitere Wachstum weg von Produktionsgütern hin zu sog. Assets (z.B. Immobilien, später Intellectual Property, etc.) und es bleibt abzuwarten, wie angesichts knapper werdender Umweltressourcen das weitere Wachstum aller Volkswirtschaften gesichert werden soll.
- “Die Entfremdung der Produktivkräfte vom Produktionskapital”, wie Marx es im Duktus seiner Zeit formulierte. Wenn heute 70% der Amerikaner ihren Job als nutz- und bedeutungslos empfinden, dann ist das diese “Entfremdung”, die Marx – wenn auch 100 Jahre zu früh – prognostizierte. Man muss es nicht wie der Geograph David Harvey formulieren, aber man kann: “Technology failed in it’s role to provide for meaningful work, but consumerism was invented to keep people happy instead”.
Man mag Marx heute für philosophisch relevant halten oder nicht. Seine damalige Analyse der systemimmanenten Widersprüche war auf jedenfall treffend, wenn er auch den Zeitrahmen zur Materialisierung der Probleme oder die Selbstheilungsfähigkeit des Kapitalismus deutlich zu pessimistisch eingeschätzt hat. Aber seine Analyse des Kapitalismus ist heute vor allem in einer Blickrichtung mehr als relevant: warum handeln die wirtschaftlichen und politischen Akteure heute – bei aller privaten Einsicht – kollektiv immer noch nicht entschlossen, um das System zu retten? Hinweise darauf könnte die Spieltheorie geben.
Known unknowns: Welches Spiel spielen wir eigentlich?
Wissen, dass man etwas nicht weiss. Der berühmte Ökologe, Ingenieur und Multitalent James Lovelock sagte in einem seiner letzten Interviews im Alter von 101 Jahren, dass er und unsere Biosphäre sich im letzten Prozent ihres jeweiligen Lebens befänden. Hoffentlich, dann hätten wir noch 40 Millionen Jahre. Lovelock ist insofern für das Verständnis unseres Ökosystems bedeutsam, als er als einer der ersten die Selbstregulierung unseres gesamten Planeten (er nannte das “Gaia”) als ein technisches Problem auffasste, in dem Leben und der Mensch ihren Beitrag zum effizienten Abbau der Strahlungsenergie der Sonne leisten würden. Wenn wir das Ökosystem zum Kollaps bringen, dann weil wir unsere Funktion im Spiel nicht mehr effizient und systemerhaltend ausüben würden.
Diese Art von Spiel kennt man in der Spieltheorie. Man unterscheidet zwei Arten von Spielen: sogenannte endliche Spiele (“finite games”) und unendliche Spiele (“infinite games”).
* | Endliches Spiel | Unendliches Spiel |
---|---|---|
Eigenschaften | – Begrenzte Zahl an Spielern – Es bestehen anerkannte Regeln – Das Spiel hat ein definiertes Ziel (Ende) | – bekannte und unbekannte Spieler – keine anerkannten Regeln – das Spiel hat kein definiertes Ziel (Ende) |
Die Spieler | – wollen unbedingt gewinnen – hassen Überraschungen – planen gerne | – wollen so lange wie möglich im Spiel bleiben – lieben Überraschungen – planen nur grob und widerwillig |
Das Spiel endet | wenn das definierte Ziel erreicht ist | für einen Akteur, wenn er nicht mehr den Willen oder die Kraft aufbringt, um im Spiel zu bleiben |
Charakteristika | theatralisch, braucht Publikum | dramatisch, braucht Teilnehmer |
Beispiele | Alle Sportarten (z.B. Tennis, Basketball, etc.), die meisten Firmen, auf jeden Fall alle, die Weltmarktführer werden wollen, Jürgen Schrempp | Kultur, Ökologie, ganz bestimmte Firmen im Business (z.B. eine neuseeländische Firma mit einem 500-Jahre-Entwicklungsplan), Warren Buffet |
Äußere Anzeichen | Lizenzgebühren, Wachstum durch Akquisition, Zweistellige Wachstumsraten in den letzen 5 Jahren, unser VC hat uns 5 Mio. für 10% gegeben, Dutch auction | Open Source, Familienbetrieb seit 1850, Vermögenssteuer, jährliche Wachstumsraten von 5-8%, strategische Partnerschaften, Handschlaggeschäft |
Wenn endliche Spieler gegen endliche Spieler antreten, ist die Lösung stabil (ein Spiel mit einem Gewinner zum definierten Spielende). Gleiches gilt für zwei oder mehrere unendliche Spieler. Hier dauert das Spiel idealerweise unendlich lange. Probleme gibt es dann, wenn man die Spieler mischt. Unendliche Spieler in einem endlichen Spiel müssen meist überrascht feststellen, dass sie plötzlich verloren haben. Für endliche Spieler in einem unendlichen Spiel haben die alten Römer den Begriff vom Pyrrhussieg erfunden.
Könnte es sein, dass – spieltheoretisch gesprochen – unsere Wirtschaft heute mit zu vielen endlichen Spielern besetzt ist, die nicht verstanden haben, dass sie in einem unendlichen Spiel mitwirken? Liest man die Konzernberichte fast aller großen Firmen und definitiv der 100-Topverschmutzer unserer Umwelt, dann könnte man auf diesen Gedanken kommen. “Wir sind die Nummer eins weltweit in …”, “wir haben mit XY eine ideale synergetische Ergänzung zu unserem Portfolio in Südost-China gefunden”, “unsere Marktkapitalisierung reflektiert unsere Führungsposition als…”.
Viel ist geschrieben worden über die Wirtschaft der Zukunft. Welche Eigenschaften man als Unternehmenslenker des 21. Jahrhunderts mitbringen muss, welche Werte eine Firma heute haben sollte und wie Social das Business der nächsten Generation auszusehen hat. Viele tolle Firmen gibt es, die es wirklich versuchen, besser zu machen. Aber wenn der niederländische Historiker Rutger Bregman in Davos das Offensichtliche sagt und eine höhere Besteuerung für Wohlhabende und Großunternehmen fordert, dann schlägt ihm Spott und Wut entgegen. Und das “große Geld” wird immer noch wo anders verdient. Die Firma mit dem weltweit größten Gewinn 2020 war… Saudi Aramco.
Wenn es so ist, dass unendliche Spieler aus einem bestimmten Grund immer noch eine deutliche Minderheit sind und der größte Teil der Wirtschaft weiterhin trotz aller Einsicht und allen Wissens nach “endlichen Regeln” zu spielen versucht: was könnte man tun, um aus endlichen Spielern unendliche zu machen?
Unknown unknowns: welches Spiel wollen wir eigentlich spielen?
In unserer heutigen Welt führt der Weg zu gesellschaftlicher Wohlfahrt (prosperity) ausschließlich über ökonomisches Wachstum. Es gibt durchaus unterschiedliche Auffassungen darüber, wie eine Gesellschaft optimalerweise öffentliche Güter bereitstellt (etwa, wenn man die mitteleuropäische und anglo-amerikanische Auffassung über Schienenverkehr oder Wasserversorgung vergleicht), aber die ganze Welt scheint sich einig zu sein, dass die Privatwirtschaft der Erfolgsgarant für ein funktionierendes Gemeinwesen ist. Und nach 50 Jahren des real existierenden Kommunismus ist das eine durchaus nachvollziehbare Haltung.
Wenn man aber die ungewollten Folgen einer Sache beseitigen will, muss man die Probleme beseitigen. Nehmen wir für den Moment an, dass die Grundursache für den schlechten Zustand des Planeten darin liegt, dass nicht alle Spieler das unendliche Spiel spielen. Und nehmen wir weiterhin an, dass das Spielen des unendlichen Spiels unsere Situation signifikant verbessern würde: Wie könnte das aussehen?
Denn eine dekarbonisierte und gerechte Welt ohne Wachstum ist schwer vorstellbar. Aber wenn wir es wollen würden, würde eine solche Welt ziemlich sicher anders aussehen als heute. Schwer zu modellieren, aber ein paar Elemente könnten wie folgt sein:
- Unternehmen dürften nicht im Interesse der Gesellschafter geführt werden
- Finanzmärkte müssten weniger effizient werden
- Der Staat würde aktiv im Bereich Umweltschutz regulieren
- Boni würden erst nach 10 Jahren ausgezahlt
- Weniger Konsum für alle
- Staatliche Akteure bestimmten die Grundrichtung der gesellschaftlichen und technologischen Innovationstätigkeit und incentivierten diese
- … usw.
So kann man argumentieren, dass die Attraktivität des endlichen Spiels im Wesentlichen auf zwei Säulen beruht, Geld und Macht. Die endlichen Spieler sind nicht intrinsisch böse oder moralisch verdorben, sie spielen ein Spiel, um zu gewinnen. Und dieser Gewinn kann in einem großen Bonusscheck am Ende des Jahres liegen oder eben in Ansehen und Einfluss über andere Menschen. Die Sache mit dem Geld wäre nicht schwierig zu regeln, es könnte zum Beispiel einen jährlichen Höchstbetrag geben, der als Gehalt ausgeschüttet werden darf. Dieser orientiert sich am Pay-Gap-Ratio. ist also ein Faktor des niedringsten Gehaltes, das in der Firma ausbezahlt wird. Selbstverständlich sind die Gehaltsverhandlungen in dieser Liga frei, das bedeutet, Arbeitgeber und Manager können als Gehalt vereinbaren, was sie wollen, mit einer Nebenbedingung: der Rest des Gehaltes muss zwingend als Bonus bezahlt werden anhand von Kriterien, die in der Zukunft liegen. Der Erwartungswert der Boni ist bei einer staatlichen Treunhandgesellschaft zu deponieren, die dann die Auszahlung überwacht. Das ist natürlich anti-liberal und völlig indiskutabler Sozialismus, ausser, dass dieses System bereits seit 150 Jahren existiert und Rentenversicherung heißt. Und dürfen Boni vererbt werden? Eher nicht. Der Vorteil dieses Systems: jeder Manager hat ein Interesse, dass es die Firma, die man führt, möglichst lange gibt. Und man kann sich nach seinem Job darauf verlassen, dass die nachfolgende Managergeneration die gleichen Interessen hat.
An dieser Stelle sei Chang Ha-Joon’s sehr interessantes Buch 23 Things They Don’t Tell You About Capitalism empfohlen, in dem er durchaus fakten- und kenntnisreich beschreibt, dass nicht der Kapitalismus an sich unsere Probleme erzeugt, sondern die Art und Weise, wie wir ihn anwenden.
Zusammenfassung
Dass die Welt anders werden muss, ist eine nicht allzumutige Erkenntnis, ressourcenschonender, verantwortungsvoller und gerechter muss es sein, damit wir zukünftigen Generationen noch eine lebenswerte Welt hinterlassen können. Selbst das Bundesverfassungsgericht hat einschlägig dazu entschieden und viele – wenn nicht die meisten – Menschen stimmen dem zu.
Die Vorstellung, dass wir unsere bestehende Welt dekarbonisieren und trotzdem eine auf Wachstum basierende Gesellschaft beibehalten können (die dann eben grün weiter wächst), ist durch die Faktenlage nicht zu rechtfertigen. Zu groß erscheint die Lücke zwischen Ist und Soll.
Viele Gedankenspiele, wie eine andere, funktionierende Welt aussehen kann, sind möglich. Manche davon sind utopisch, andere dystopisch und viele einfach auch nur ungewohnt. Wenn wir die Frage beantworten wollen, welches Spiel wir eigentlich spielen sollen, um unsere Haut zu retten, können sie aber alle wertvolle Ansatzpunkte liefern.
Wollen wir in einer von diesen neuen, anderen Welten leben? Nur eines scheint sicher: wenn wir diese Frage nicht schnell beantworten, werden wir uns wahrscheinlich bald wünschen, dass wir es täten.
Further read:
Chang, Ha-Joon Chang: 23 Things They Don’t Tell You About Capitalism. Penguin, 2011.
Jackson, Tim: Prosperity without Growth: Economics for a Finite Planet. Routledge, 2011.
Zum Klimaschutzurteil des Bundesverfassungsgerichtes aus 2021
Potentiale und Grenzen der derzeit diskutierten Maßnahmen zum Klimaschutz